Silbermann Orgel zu Reinhardtsgrimma
Evangelische Kirche Reinhardtsgrimma
Gedanken zur Restaurierung der Orgel 1997
von Kristian
Wegscheider
Die Orgel in Reinhardtsgrimma war die erste Silbermann-Orgel, die ich bewußt als Orgelbaulehrling in einem Konzert mit Herbert Collum hörte. Das war 1975, ich hatte gerade meine Ausbildung im VEB Orgelbau Dresden (Jehmlich-Orgelbau) begonnen.
In den folgenden Jahren gab es einzelne Kontakte zu dieser Orgel, in Konzerten, einmal auch als Statist (als Orgelrestaurator) in einem Fernsehbeitrag zu Gottfried Silbermann und einmal als Orgelbauer, von der Firma Jehmlich geschickt zur Behebung eines mechanischen Schadens an der Orgel.
Die Silbermann-Orgel in Reinhardtsgrimma hat unter den Dresdnern
einen sehr guten Ruf und einen hohen Bekanntheitsgrad. Der große
Freundeskreis um Herbert Collum garantierte stets gut besuchte
Orgelkonzerte, die auch weit über Dresden hinaus geschätzt und
bewundert wurden.
1993 wurde ich von Kantorin Ulrike Baudach gebeten, den
Kostenanschlag für einen Pflegevertrag einzureichen. 1995 wurde dann
ein Orgelpflegevertrag mit der Gemeinde abgeschlossen. Erste
Arbeiten an der Mechanik (Erneuerung schadhafter Ledermuttern und
Ventilgehänge) wurden ausgeführt. Anläßlich dieser ersten
Pflegearbeiten wurde eine Zustandsaufnahme mit einer Beschreibung
der erkennbaren Schäden der Orgel erarbeitet.
Am 17. August1996 kam Herr Hubert Hofer mit Herrn Hantke und Herrn Hodick anläßlich des Orgelkonzertes, daß Prof. Klaus Eichhorn am 18. August 1996 gab, nach Reinhardtsgrimma. Dabei ist wohl die Idee geboren worden, die Orgel vollständig restaurieren zu lassen. Am 20. September 1996 reichte ich einen Kostenanschlag für die Restaurierung der Orgel mit Rekonstruktion der Keilbalganlage auf dem Kirchenboden ein und erhielt am 27. Januar 1997 den offiziellen Auftrag zur Restaurierung der Orgel.
In ständigem Kontakt mit dem großzügigen Sponsor Herrn Hofer und mit
dem Sachverständigen Herrn Hodick stehend, wurden die auftretenden
Probleme gemeinsam besprochen und erörtert. Es bestand Einigkeit
darüber, daß es das Ziel dieser Restaurierung sein muß, die
erkennbare ursprüngliche klangliche Gestalt der Orgel
wiederherzustellen.
Wie beginnt man nun eine solche Restaurierung? Die Orgel hat ja bis zuletzt in Konzerten gespielt und wurde von den meisten Spielern und Hörern hoch geschätzt. Wie soll eigentlich die Rückführung auf die ursprüngliche Klanggestalt der Orgel erreicht werden?
Wir tasteten uns behutsam vor. Zunächst gab es die eindeutige Forderung nach Rekonstruktion der ursprünglichen Balganlage. Die originalen Keilbälge Silbermanns wurden wegen Holzwurmbefalls 1852 von dem Orgelbauer Stöckel durch drei Kastenbälge ersetzt. Diese wiederum 1940 oder 1953 von den Gebrüder Jehmlich durch einen Schwimmerbalg.
Der Platz in der Bälgekammer auf dem Dachboden läßt nur zwei große Keilbälge zu. Die Bälge wurden nach den Vorbildern der Silbermann-Orgel in Crostau in den Maßen 5 Fuß breit (1,42 m) und 10 Fuß lang (2,84 m) rekonstruiert. Auch das überaus kräftige Balggestell wurde nach abgenommenen Maßen wieder in alter Handwerkstechnik mit den typischen Holzverbindungen rekonstruiert.
Der neue Orgelmotor betreibt über 2 Drosselventile beide Bälge, die
aber auch ohne Motor (z.B. bei Stromausfall) im Calcantenbetrieb
bedienbar sind und die Orgel mit dem notwendigen Wind versorgen
können.
Leichte Entscheidungen bei den restauratorischen Maßnahmen waren:
- Entfernung des
pneumatisch angesteuerten Registers Salicional 8' (Dolce)
- Rekonstruktion der gesamten Lederpulpeten
- Neubelederung der Ventile
- Rückversetzen der Federleisten und Anleimen der Ventile
- Durchsicht und Reparatur der gesamten Ton- und Registermechanik
- Überholung und teilweises Neubelegen der Klaviaturen
- Beibehaltung und Überholung der von Stöckel eingebauten
Pedalkoppel
Etwas schwieriger war die Entscheidung, ob die Windladen zur
Überholung in die Werkstatt nach Dresden kommen oder wegen der
klimatischen Umstellung doch lieber in der Kirche bleiben sollten.
Nachdem wir bei gründlicher Reinigung der Orgel verschiedentlich
frischen Holzwurmbefall feststellen, diesen dann auch bekämpfen
mußten (mit Basileum), entschieden wir uns, die Windladen in der
Zwischenzeit in die Werkstatt zu nehmen, da wir wegen der
Holzwurmbehandlung ohnehin nicht in Reinhardtsgrimma arbeiten
konnten. Bei der genauen Untersuchung der Windladen stellten wir
leider doch etliche Risse fest, die nun in der Werkstatt gut
ausgespänt werden konnten.
Am 10. Oktober 1997 entdeckten wir voller Freude den bereits
beschriebenen Brief des Kantor Franz von 1852, den wir nach einer
Abschrift wieder an den Platz in der Windlade zurücklegten.
Die schwierigsten Entscheidungen der gesamten Restaurierung mußten
im klanglichen Bereich getroffen werden. Hier hatte die Orgel ganz
offensichtlich die meisten Veränderungen erfahren.
Durch das Gutachten von Pfretzschner und den Brief von Kantor Franz
sind wir über die Arbeiten 1852 gut unterrichtet. Stöckel hat z. B.
die wegen Wurmbefall erneuerten Holzpfeifen ganz genau in der
ursprünglichen Mensur nachgebaut. Auch die erneuerten Metallfüße
sind geschickt angebracht. Klanglich hat Stöckel die Orgel
wahrscheinlich kaum verändert. Eventuell hat er einzelne Kernstiche
etwas vergrößert bzw. auch neu gesetzt.
Einer der von Stöckel in der Rohrflöte 4' neu angefügten Pfeifenfüße
trägt eine Aufschrift mit der Arbeitsanweisung für den Gesellen, der
die Pfeifen wieder auf die Windlade setzte: "muß solange
abgeschnitten werden, bis es baßt".
Anläßlich der Arbeiten zum Einbau des pneumatisch angesteuerten
Salicional 8' im Jahr 1909 (?) dürfte die Orgel wohl auch kaum
verändert worden sein. Auch hier vermuten wir, daß nur größere
Kernstiche in die originalen Pfeifen gesetzt worden sind.
Entscheidend klanglich verändert wurde die Orgel 1953,
möglicherweise auch schon etwas bei der Orgelüberholung 1940. Die in
dieser Zeit leider verbreitete Ansicht, der Winddruck müsse gesenkt
und die Pfeifenfüße geöffnet werden, führte dazu, daß 1953 die
Fußspitzen fast aller Metallpfeifen abgeschnitten und die Pfeifen
somit auf 'offenen Wind' gestellt wurden. Der Winddruck wurde nach
der Inschrift in der Orgel von 94° auf 70° gesenkt (gemeint sind
natürlich nicht Grad sondern mm Wassersäule). Zwangsläufig mußten
dann die Pfeifenfüße geöffnet werden, da die Pfeifen sonst nicht
richtig ansprechen konnten, was in diesem Fall leider durch
Abschneiden der Fußspitzen erfolgte. Hand in Hand mit den
Intonationsarbeiten 1953 ging auch eine leichte Erhöhung der
Stimmtonhöhe einher, wie es sie ebenfalls bei der 1852 erfolgten
Einstimmung der Orgel in gleichschwebender Stimmung gegeben haben
dürfte.
Die Orgel erhielt einen völlig neuen Klangcharakter, mit dem sie
dann seit den 50iger Jahren bekannt wurde. Viele Hörer liebten den
besonders milden Klang dieser Silbermann-Orgel, der sich ja deutlich
von anderen, weitgehend original erhaltenen Silbermann-Orgeln (z. B.
Großhartmannsdorf), unterschied. Daß die Orgelpfeifen diese
Winddrucksenkung von fast 25 mm Wassersäule überhaupt mitmachten,
spricht für ihre außergewöhnliche Qualität, die sie ihrem Erbauer
verdanken.
Mit der Winddrucksenkung und der Umintonation, von der ja auch noch
andere Silbermann-Orgeln, die in den 50iger Jahren überarbeitet
wurden, betroffen sind bzw. waren, stellte sich aber auch die
vielbeklagte Windstößigkeit ein. Dies ist auf den inzwischen
historischen Aufnahmen der Eterna-Schallplatten mit der
Reinhardtsgrimmaer Orgel gut zu hören.
1976 schlägt der Sachverständige der Evangelischen Landeskirche,
Christoph Schwarzenberg, vor, die Windstößigkeit durch Einblasen des
Motorwindes in den Kanal in Höhe der Orgel zu mildern. Der Vorschlag
wurde nicht ausgeführt.
Auch der Kanaltremulant funktionierte nach der Winddrucksenkung
nicht mehr richtig. Die zahlreichen Versuche, mit neuen
Messingfedern und verschiedensten Gewichten den Tremulant bei dem
niedrigen Winddruck zum Funktionieren zu bringen, sind noch heute an
der Tremulantenklappe ablesbar.
Nach den Arbeiten 1953 wurde die Orgel ständig für die zahlreichen
Konzerte gestimmt, teilweise sogar mehrmals im Jahr. Durch diese
Stimmungen, ausgeführt mit relativ schweren Messingstimmhörnern,
erlitten die Metallpfeifen leider gröbste Schäden. Nach der genauen
Schadensaufnahme mußte ich leider feststellen, daß die Schäden am
Pfeifenwerk in dieser Weise in keiner anderen mir bekannten
Silbermann-Orgel aufgetreten sind.
Nach mehreren Untersuchungen und Versuchen mußten wir feststellen:
Das Pfeifenwerk läßt sich nicht mehr ohne größere Eingriffe in einen
stimmbaren Zustand zurückversetzen.
Nach Beratungen mit Kollegen entschieden wir uns, die zylindrischen
Metallpfeifen mit Stimmringen zu versehen und nur die konischen
Pfeifen anzulängen, um so die stark lädierten Labienbereiche in
Zukunft zu schonen. Die Pfeifen wurden sorgfältig repariert,
gestauchte Wandungen wieder gerichtet, zahlreiche Stütznähte bei
besonders empfindlichen Pfeifen angebracht.
Wie sollten wir uns nun bei der Intonation der Orgel entscheiden?
Die Vorgabe vom Sponsor und vom Sachverständigen war klar:
Restaurierung - heißt Rückführung auf den beweisbaren, erkennbaren
ursprünglichen Zustand.
Das bedeutet aber, daß wir ein völlig verändertes Klangbild
erhalten, daß die neue / alte Klanggestalt der Orgel nichts mehr mit
dem zu tun hat, was über 40 Jahre zu dieser Orgel gehörte, diese
Orgel auch bekannt gemacht hat. Sollte man eventuell einen Kompromiß
mit dem Winddruck anstreben, damit der Klangunterschied nicht zu
kraß ausfällt?
Nach einigen Versuchen mit dem restaurierten Pfeifenwerk
entschlossen wir uns, den geradlinigen Weg zu gehen. Der von Werner
Sehrer 1953 gemessene Winddruck von 94 mm WS, der in ähnlicher Größe
z. B. auch in Großhartmannsdorf oder in Schloß Burgk belegt ist,
wird mit Ziegelsteinen auf den rekonstruierten Keilbälgen aufgelegt.
Die Pfeifenfüße wurden wieder leicht gekulpt, Kernstiche teilweise
zugerieben, die Kernspalten nach den an den Labiumseiten erkennbaren
Maßen geöffnet.
Die reparierten Prospektpfeifen ergaben beim Winddruck von 94 mmWs
einen Stimmton von 470 Hz für a'. Die Temperierung erfolgte mit der
Stimmungsart, in der wir bereits das Silbermann-Positiv im Bremer
Dom einstimmten: einer modifizierten mitteltönigen Stimmung, die
keine Wolfsintervalle aufweist, aber dennoch eine deutliche
Tonartencharakteristik besitzt.
Mündungen der Prospektpfeifen im rechten Turm vor der Restaurierung.
Die zuvor beklagte Windstößigkeit ist so gut wie verschwunden, der
Tremulant funktioniert sofort viel besser. Die Orgel mit ihren
'etwas hängenden Schultern' richtet sich wieder auf.
Ein neuer - alter Klang weht uns entgegen, ungewohnt, stark und
kräftig. Lassen wir uns von diesem Klang entführen in die kraftvolle
Zeit des Barock.
Ein herzliches Dankeschön richte ich an Herrn Hubert Hofer. Ohne
seine großzügige finanzielle Unterstützung wäre diese Restaurierung
nicht möglich gewesen. Wie schön, daß es solche Menschen gibt.
Aber auch der Kirchgemeinde Reinhardtsgrimma danke ich herzlich für
das entgegengebrachte Vertrauen in unsere junge Orgelwerkstatt. Für
uns ist es eine große Ehre, daß wir diese Arbeiten an dem wertvollen
Instrument ausführen durften.
Ein ganz besonderer Dank geht an die Mitarbeiter meiner Werkstatt,
die mit großem Fleiß und Können die einzelnen Arbeiten in der
Werkstatt und in der Kirche ausgeführt haben:
Michael Wetzel, Hartmut Schütz, Ulf Hausmann, Reinhard Schäbitz,
Gunter Böhme, David Buschbeck, Friedemann Schwarzenberg, Matthias
Weisbach, Adrian Steger, Michael Dittrich und, nicht zu vergessen,
Susanne Tränkner, unserer Sekretärin.
Ein Dankeschön geht auch an Hilke Frach-Renner, die nach Silbermanns
handschriftlichem Dispositionsvorschlag vom 17. Oktober 1725 die
Registerschilder neu gestaltete.
Kristian Wegscheider